1. Theologisch-spirituelle Grundlegung
Unser Glaube an Gott, der die Liebe ist (1 Joh 4, 7-11), zeigt sich in der konkreten Zuwendung Jesu zu den Menschen. In ganz besonderer Weise wendet sich Jesus Menschen mit Behinderung zu, holt sie aus ihrem Ausgegrenzt-Sein und stellt sie in die Mitte (Mk 3,1-6). So unterstreicht er deren Einzigartigkeit und die Würde jedes Menschen (Jes 43, 1), der uneingeschränkt von seinem Schöpfer geliebt ist.
Jesus identifiziert sich so sehr mit Notleidenden und Ausgegrenzten, dass er sagt: „Was ihr für einen meiner geringsten Brüder getan habt, das habt ihr mir getan“ (Mt 25, 40). So begegnet uns im Antlitz jedes Not leidenden und ausgegrenzten Menschen Christus selbst. Papst Johannes Paul II bezeichnet daher Menschen mit Behinderung als „besondere Zeugen der Nähe Gottes“.
Für uns als Christen ergibt sich daraus eine Haltung der Achtsamkeit und Offenheit für die ZuMUTung, aber auch für den Reichtum, den Menschen mit Behinderung darstellen. Menschen mit Behinderung gehören selbstverständlich zum Volk Gottes. Sie ermutigen uns, unsere eigenen Behinderungen wahr- und anzunehmen. Sie lehren uns, dass die Erfahrung von Möglichkeiten und Grenzen eine menschliche Grunderfahrung ist.
Seelsorgliches Engagement für Menschen mit Behinderung und ihren Familien lässt erfahren, dass Gott der „Ich-bin-da“ ist. Gottes Gegenwart unter uns aufscheinen zu lassen, ist der tiefste Sinn allen pastoralen Tuns.
Seelsorge für Menschen mit Behinderung als diakonische Seelsorge geschieht „um der Menschen Willen“ in der Nachfolge Jesu. Sie ist deshalb die glaubwürdige und notwendige Konsequenz aus dem Einsatz der Katholischen Kirche für ungeborenes menschliches Leben.
2. Herausforderungen
2.1 Gesellschaftliche Herausforderungen
In der medizinischen Forschung setzt sich zusehends ein Paradigmenwechsel durch: Nicht Gott schafft den Menschen, sondern der Mensch schafft sich selbst. Daraus erwächst eine Bedrohung des Rechts auf Leben für Menschen mit Behinderung.
Die Diskussion um Biotechnologien wie das Klonen, die Präimplantationsdiagnostik sowie die Embryonenforschung verstärken diese Tendenz. Dadurch droht alles, was nicht dem gängigen Bild vom perfekten Menschen entspricht, zunächst kontrolliert und dann „aussortiert“ zu werden.
Die Situation verschärft sich auch angesichts knapper werdender finanzieller Ressourcen. Hierdurch geraten Eltern von Kindern mit Behinderung immer häufiger unter Rechtfertigungsdruck. Sie werden für die Geburt ihres Kindes verantwortlich gemacht und sollen deshalb die „Folgekosten“ nicht der Gemeinschaft „zumuten“, sondern selbst tragen. Zusätzlicher Druck entsteht durch die Änderung des § 218 StGB bezüglich der Spätabtreibung. In Folge dessen wird es für werdende Eltern immer schwieriger, sich für die Geburt eines eventuell behinderten Kindes zu entscheiden.
In all dem zeigt sich ein Wertewandel in der Gesellschaft: Behindertes Leben wird als nicht zumutbar, als vermeidbares Risiko und als „finanzieller Schadensfall“ angesehen. Damit wächst die Gefahr, Menschen mit Behinderung als Belastung zu empfinden.
Auch für die Mitarbeiterinnen und Mitarbeiter in den Einrichtungen der Behindertenhilfe ist die Situation oft belastend, zumal sich die finanziellen und personellen Ressourcen verringern. Entlastung, Unterstützung und Begleitung ist hier dringend erforderlich.
Die Ratifizierung der UN-Konvention über die Rechte von Menschen mit Behinderung im Jahr 2008 ist ein hoffnungsvoller Schritt zu einer neuen Sichtweise. Denn für Menschen mit Behinderung werden nicht nur Rechtsansprüche normiert, sondern Staat und Gesellschaft werden verpflichtet, die Voraussetzungen für ihre Teilhabe am Leben in der Gesellschaft zu schaffen. Auch wenn dieses Gesetz keine unmittelbaren individuellen Rechtsansprüche begründet: das Gleichheitsgebot und das Verbot von Benachteiligung in allen Lebensbereichen stärken die Position der Betroffenen gegenüber den Leistungsträgern im sozialen Bereich. Die Entwicklung hin zu einer inklusiven Gesellschaft, an der alle nach ihren Möglichkeiten teilhaben, erfordert auch den Einsatz der Kirchen.
2.2 Menschlich-familiäre Herausforderungen
Behinderung trifft Betroffene und Angehörige unvorbereitet und wird als existenzielle Krise und Bedrohung erlebt. Eltern müssen Abschied nehmen von ihrem Wunsch nach einem gesunden Kind und lernen, das Kind, so wie es ist, anzunehmen. Viele Paare und Familien sind in dieser Situation überfordert. Die Behinderung wird häufig tabuisiert. Die Familie droht in die Isolation zu geraten.
Der hohe Anteil an zerbrochenen Beziehungen bei von Behinderung betroffenen Eltern ist ein deutliches Indiz für diese Überforderung. Auch die Situation der Geschwisterkinder darf nicht aus dem Blick geraten. Viele betroffene Familien suchen Unterstützung für die Verarbeitung der Behinderung. Eine fachkundige Begleitung zur Bewältigung ihrer Situation ist hierbei wichtig.
2.3 Kirchlich-gemeindliche Herausforderungen
Familien mit einem behinderten Kind sind so kirchennah bzw. kirchenfern wie andere Familien auch. Aber meist wünschen sie besonders von Seiten der Kirche eine starke Solidarität für ihre Situation. Häufig fühlen sie sich jedoch gerade von ihrer Kirchengemeinde und von den hauptberuflich in der Seelsorge Tätigen übersehen. Sie erleben, dass die Behinderung eines Familienmitgliedes auch in der Gemeinde tabuisiert ist.
Viele Elternpaare thematisieren in diesem Zusammenhang eine erlebte Diskrepanz zwischen der Botschaft des Evangeliums sowie dem verbalen Engagement der Kirche für das ungeborene behinderte Leben und der fehlenden Unterstützung innerhalb der Gemeinde. So werden gelegentlich Kinder, die Förderschulen außerhalb der Gemeinde bzw. der Pfarreiengemeinschaft besuchen, bei der Einladung zur anstehenden Sakramentenkatechese übersehen und in einzelnen Fällen sogar ausgegrenzt.
Viele Familien mit einem behinderten Kind scheuen die Teilnahme an den Gemeindegottesdiensten, da sie oft die Erfahrung machen müssen, infolge des Verhaltens ihres Kindes negativ aufzufallen.
Viele hauptberuflich in der Seelsorge Tätige fühlen sich überfordert im Umgang mit Menschen, die von Behinderung betroffen sind und deren Angehörige. Sie beklagen die fehlenden zeitlichen Ressourcen und die mangelnde fachliche Kompetenz, besonders Menschen mit geistiger Behinderung und Mehrfachbehinderung adäquat zu begleiten bzw. auf die Sakramente vorzubereiten und sie in das Gemeindeleben zu integrieren.
Aus unterschiedlichen Gründen gelingt es meist nicht, dass Einrichtungen der Behindertenhilfe in ihren Pfarreiengemeinschaften als kirchliche Orte wahrgenommen werden.
Die ideelle kirchliche Solidarität mit Menschen mit Behinderung ist sehr hoch. Jedoch sind wir noch weit davon entfernt, dass Menschen mit Behinderung, ihre Familien wie auch die entsprechenden Betreuungseinrichtungen tatsächlich und ganz selbstverständlich zur Gemeinde vor Ort gehören.
Überall dort, wo betroffene Familien gemeinsame Gottesdienste, Erstkommunionfeiern, Ministrantendienste, Nachbarschaftshilfe und ein offenes Ohr für ihre Sorgen und Nöte erleben, können sie erfahren, dass sie für alle bereichernd sind. Hier gelingt Inklusion. Dies zeigt deutlich, dass ein gemeinsames Leben und Feiern von Menschen mit und ohne Behinderung erreicht werden kann. Hauptberuflich in der Seelsorge Tätige sollten mutig solche Wege weiter gehen. Gleichzeitig müssen sie darauf achten, dass bei allem pastoralen und karitativem Handeln künftig von vorneherein die besonderen Bedürfnisse von Menschen mit Behinderung berücksichtigt werden, damit es erst gar nicht zur Ausgrenzung kommt. Leben mit einer Behinderung wird dann den dauerhaften Sonderstatus verlieren.
3. Folgerungen für eine diakonische Pastoral - insbesondere für die Seelsorge mit behinderten Menschen
Eine der zentralen Grundentscheidungen der Diözese Würzburg lautet: „Der Mensch in Not hat Vorrang!“ Sie lässt sich auch auf Menschen mit Behinderung, ihre Familien und Betreuungseinrichtungen übertragen.
Diakonische Pastoral versteht sich als Anwalt für die betroffenen Menschen und will Sprachrohr in Kirche und Gesellschaft sein für jene, die ihre Anliegen nicht selbst ausdrücken können. Gleichzeitig ermutigt sie Menschen mit Behinderung in weitgehendster Selbstbestimmung ihre Anliegen zu vertreten.
Die persönliche Begleitung von Menschen mit Behinderung und ihrer Familien ist eine vorrangige Aufgabe der diakonischen Pastoral auf gemeindlicher und kategorialer Ebene. Dabei ist es selbstverständlich, auf die Betroffenen und auf ihre Familien zu zugehen, sie in ihrer besonderen Situation wahrzunehmen und Begleitung anzubieten.
Inklusion als Handlungsprinzip bietet eine wertvolle Grundlage für diakonisches Handeln im Umgang mit Menschen mit Behinderung - auch im Rahmen der Sakramentenkatechese. Hier ist eine sensible, kompetente und entsprechende Gestaltung der liturgischen Feiern hilfreich, die die besondere Situation der Menschen aufgreift und Glauben als Lebenshilfe deutlich macht.
Seelsorge für Menschen mit Behinderung orientiert sich auch an den unterschiedlichen Lebensorten und Situationen der betroffenen Menschen. Sie ist deshalb notwendigerweise sowohl Gemeindeseelsorge in den Pfarreiengemeinschaften als auch besondere (kategoriale) Seelsorge in den Einrichtungen und Schulen. Hierbei versteht sich die kategoriale Seelsorge für Menschen mit Behinderung als unterstützend und ergänzend zur Gemeindeseelsorge in den Pfarreiengemeinschaften.
Hauptberuflich in der Seelsorge Tätige vernetzen sich also im Sinne der Inklusion mit anderen Partnern (besonders der Behindertenhilfe) und tragen dazu bei, dass menschenwürdiges Leben gelingen kann.
Die Begleitung von Menschen mit Behinderung, ihrer Familien und der sie betreuenden Menschen erfordert fachliche und seelsorgliche Kompetenzen. Sie sollten über Standards für eine gezielte, fachspezifische Aus- und Weiterbildung, unter anderem auch in den Bereichen Medizin, Psychologie, Recht und Sozialarbeit erreicht werden.
Auch in der Aus- und Weiterbildung der pastoralen Mitarbeiterinnen und Mitarbeiter der Diözese Würzburg ist die Situation der Betroffenen zu thematisieren, um ein Bewusstsein für die besonderen Nöte und Sorgen, aber auch Hoffnungen und Freuden der Menschen mit Behinderung und ihrer Angehörigen zu schaffen
4. Ausblick
Ziel ist es also, Inklusion in der Pastoral der Pfarreien und Pfarreiengemeinschaften, in den Gemeinden und Gemeinschaften der Diözese zu verwirklichen. Hauptberuflich in der Seelsorge Tätige sind deshalb selbstverständlich für Menschen mit Behinderung seelsorglich verantwortlich.
In großen Pfarreiengemeinschaften oder Einzelpfarreien ist es sinnvoll, dass eine Person aus dem Pastoralteam einen Dienstauftrag für diesen Bereich erhält. Die wichtigste Voraussetzung zum Gelingen der Seelsorge für Menschen mit Behinderung ist die fachgerechte Qualifizierung der Seelsorgerinnen und Seelsorger. Der Auftrag allein genügt nicht. Dafür sind verlässliche personelle und sachliche Ressourcen erforderlich.
Die Diözese Würzburg räumt der Seelsorge für Menschen mit Behinderung einen festen, institutionalisierten Platz innerhalb der diakonischen Pastoral ein, um die von den Deutschen Bischöfen zugesicherte „geistliche Orientierung“ und „seelsorgliche Begleitung“ zu gewährleisten.
Für alle Abteilungen des Bischöflichen Ordinariates - besonders auch für die Hauptabteilung Seelsorge - gilt es deshalb, Barrierefreiheit und Inklusion im Denken, Planen und Handeln zu beachten und - so weit es geht - umzusetzen.
So nimmt also in der diakonischen Seelsorge die besondere Verbundenheit der Kirche von Würzburg mit den von Behinderung betroffenen Menschen konkrete Gestalt an.
Würzburg, am Festtag des Hl. Josef
19. März 2013
Ulrich Boom, Weihbischof
Leiter der Hauptabteilung II – Seelsorge
des Bischöflichen Ordinariates Würzburg